Über Datenspuren, Profiling und Machtverhältnisse, über den Sinn von Regulierung und wie Privates geschützt werden kann, wenn scheinbar nichts mehr privat bleibt – darüber haben wir mit Frederike Kaltheuner von Privacy International gesprochen. Sie ist Expertin für Technologiepolitik und hält am 28. November 2019 die Keynote bei der nächsten Ausgabe der Zukunftsgespräche zum Thema „Nichts bleibt privat!“.
Frederike Kaltheuner
Expertin für Technologiepolitik
Eine zunehmend vernetzte und automatisierte Welt ist zunächst einmal eine sehr spannende Welt voller Veränderungen und Möglichkeiten. Sie ist aber auch eine Welt, in der ein wachsender Teil unseres Lebens Datenspuren hinterlässt, die dazu genutzt werden, Menschen zu bewerten und Entscheidungen über sie zu treffen. Wenn Gesichtserkennungssoftware nicht nur erkennt, wer gerade über die Straße läuft, sondern auch analysiert, wie sich die Person fühlt und ob ihr Verhalten „auffällig“ ist, dann bedroht das weit mehr als nur die Privatsphäre. Dann geht es um etwas viel Grundsätzlicheres: und zwar um Autonomie, um Gerechtigkeit und darum, in welcher Welt wir leben möchten.
Vielleicht zur Klarstellung vorweg: Welche und wie viele Daten über uns gesammelt werden, hat erstmal nichts mit Fortschritt zu tun und ist auch nichts Unabwendbares. Es ist letztlich eine Entscheidung, ob meine Gesundheitsapp Daten mit 300 Werbefirmen teilt oder eben nicht. Zur eigentlichen Frage: Das Problem an Prognosen ist, dass sie eben nur Prognosen sind. Wenn die Art und Weise, mit der wir auf einer Tastatur tippen, dazu genutzt wird, um Rückschlüsse über unser Gefühlsleben zu ziehen, dann können diese unheimlich zutreffend sein, sie können aber eben auch völlig daneben liegen. Das mag irrelevant sein, wenn diese Erkenntnisse nur dazu genutzt werden, uns immer zielgerichtetere Werbung zu zeigen. Es hat aber in sehr vielen anderen Lebensbereichen sehr schnell viel weitreichendere Konsequenzen: zum Beispiel, wenn Prognosen in der Polizeiarbeit oder im Sozialwesen genutzt werden, um Entscheidungen zu treffen.
Ist es denn unsere Aufgabe, uns zu schützen? Zu einem gewissen Grad natürlich schon, das stößt aber sehr schnell an seine Grenzen. Es ist inzwischen nahezu unmöglich zu kontrollieren, welche Daten über uns gesammelt werden. Hier nur ein Beispiel: Die allermeisten Apps sammeln und teilen automatisch Daten mit Dritten – mehr als 40 % aller Apps für Android mit Facebook, mehr als 90 % mit Google. Dieses „Tracking“ können Nutzerinnen in den Einstellungen nicht unterdrücken: Mobile Betriebssysteme erlauben das nämlich nicht. Ob und wie also Daten über uns dazu genutzt werden, noch mehr Erkenntnisse und Rückschlüsse zu gewinnen, ist kaum mehr zu kontrollieren. Niemand hat Zeit und Lust, sich jeden Tag Gedanken über die eigenen Daten zu machen. Der Schutz der Privatsphäre ist ein Grundrecht und hat nichts mit Verzicht zu tun. Es ist die Aufgabe von Firmen, bessere Produkte anzubieten, die automatisch weniger Daten sammeln bzw. nur die, die sie auch wirklich brauchen.
Es geht um Macht und Machtungleichgewichte zwischen Menschen, Unternehmen und Regierungen. Das deutsche Wort „Privatsphäre“ suggeriert immer eine Räumlichkeit, einen geschützten Ort. Das englische Wort „Privacy“ ist viel weiter gefasst und meint nicht das Gegenteil von Öffentlichkeit.
Eben genau ein Zustand, in dem das möglich ist. Zusätzlich geht es auch um Gerechtigkeit. Der Missbrauch von Daten betrifft und schädigt leider derzeit hauptsächlich Menschen, die sowieso schon benachteiligt sind. Wer sich nur ein Smartphone für 20 US-Dollar leisten kann, für den ist der Datenmissbrauch oft schon vorprogrammiert. Wir haben uns bei Privacy International eine ganze Reihe an billigen Handys angeschaut. Viele kommen mit vorinstallierten Apps, die unglaublich viele Daten teilen und sich nicht einmal löschen lassen.
Die Regulierung von Daten gehört zu den Spielregeln der digitalisierten Welt. Sie ist nicht die einzige Spielregel und funktioniert nur, wenn Wettbewerb und Verbraucherschutz und natürlich Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung funktionieren. Viele Länder dieser Welt, auch die USA, haben noch immer keine umfassenden Gesetze, die regulieren, wer wie und zu welchen Bedingungen Daten verarbeiten darf. Andere haben Gesetze, die aber nicht durchgesetzt werden. Wir beobachten immer wieder, wie Firmen Gegenden mit mangelhaften Gesetzen als Testlabor für besonders problematische Praktiken benutzen. Ein Beispiel ist die Wahlmanipulation. Die Mutterfirma von Cambridge Analytica hat weltweit Daten zur Wahlbeeinflussung genutzt, bevor die Firma in England und den USA gearbeitet hat.
Weil es um viel Geld geht. Und Firmen Selbstregulierung immer lieber ist, als reguliert zu werden. Es gibt aber natürlich auch missglückte Regulierungsversuche. Ein Teil meiner Arbeit ist es, Regulierung zu fordern, ein anderer, schlechte Regulierung zu verhindern.
Ich finde, wir sollten viel mehr über Datenrechte anstelle von Datenschutz sprechen. Sie sind u.a. in der DSGVO gestärkt worden und das sehe ich sehr positiv. Datenrechte helfen Individuen, sich gegen Datenmissbrauch zu wehren. Dabei geht es um viel mehr als nur den Schutz der individuellen Privatsphäre. In einer Welt aus Daten sind personenbezogene Daten Teil von immer mehr gesellschaftlichen Konflikten. Uber-Fahrer versuchen derzeit mithilfe ihrer Datenrechte besser zu verstehen, wie das Unternehmen ihr Fahrverhalten bewertet. Ein spannendes Beispiel, das zeigt, wie Datenrechte Kollektiven helfen können. In der Praxis mangelt es leider oft an der Durchsetzung. Ich sehe fast täglich Produkte, die sich ganz eindeutig nicht an die DSGVO halten, zum Beispiel weil sie Nutzern keine echte Wahlmöglichkeit bieten oder es unglaublich schwierig machen, nein zu sagen, so dass man am Ende genervt zustimmt. Das ist ein Problem und muss sich dringend ändern.
Es bleibt doch noch immer sehr viel privat – und das ist gut so. Wenn ich mit meinem Arzt spreche, dann kann ich mich in der Regel darauf verlassen, dass das Gespräch privat bleibt. Wenn ich allerdings, wie eine Studie von Privacy International erst kürzlich gezeigt hat, online nach Informationen über Depressionen suche, dann lesen unzählige Werbefirmen oft mit. Das finde ich hochgefährlich. Denn das heißt, dass es möglich ist, Menschen, die sich depressiv fühlen, genau in diesem Moment zu erreichen, ganz zu schweigen davon, dass niemand so richtig weiß, wo die Daten landen. Genau aus diesem Grund haben wir bei Privacy International Beschwerde gegen Datenhändler und Tracking-Firmen eingereicht. Wenn wir damit Erfolg haben, wäre das ziemlich bahnbrechend. Und was können wir persönlich tun? Wir brauchen ein größeres Bewusstsein dafür, worum es eigentlich geht. Nämlich um die Frage, in welcher Welt wir leben und wie viel Macht wir Firmen und Regierungen geben wollen. Wir stehen, was das angeht, an einem Scheideweg: In den nächsten zwei Jahren wird sich entscheiden, ob es flächendeckend Gesichtserkennung an öffentlichen Orten geben wird – oder nicht.
Für die Vorteile der digitalen Welt scheinen wir das Konzept der Privatsphäre und ihre rechtliche Absicherung zunehmend aufzugeben. Bei den Zukunftsgesprächen „Veränderung: Nichts bleibt privat“ am 28. November diskutierten Expert*innen der FH Campus Wien mit Frederike Kaltheuner, Expertin für Technologiepolitik und Fellow der Mozilla Foundation, die Mechanismen einer zunehmend vernetzten Welt und welche Folgen es hat, wenn nichts mehr privat bleibt. Rückblick Zukunftsgespräche Veränderung: Nichts bleibt Privat