Die Demokratie als hohe Schule der Kooperation steckt in der Krise und Politik und Bürger*innen trennt mehr, als sie verbindet. Wie unsere Demokratie zu retten ist – darüber haben wir mit Philippe Narval gesprochen. Er ist Geschäftsführer des Europäischen Forum Alpbach und Autor des Buches „Die freundliche Revolution“, das soeben im Molden Verlag erschienen ist. Im Interview erklärt er, warum echte Beteiligung das Mittel der Wahl ist und wie wir die Demokratie gemeinsam weiterentwickeln können.
Philippe Narval
Managing Director/Europäisches Forum Alpbach
Unsere Demokratie steht unter Beschuss. Wir waren jahrzehntelang der Annahme, dass Demokratie ein selbsterklärendes internationales Erfolgsmodell ist und aus sich selbst heraus überzeugt. Viele glauben das immer noch. Aber es stimmt nicht mehr. Der Glaube an die Demokratie und das Vertrauen in den Staat, die Politik und in Institutionen nimmt stetig ab. Die Demokratie in Europa wird aus unterschiedlichen Richtungen angegriffen.
Wir müssen Lösungen mehr Raum geben. Wir beschäftigen uns viel zu sehr mit Problemen und viel zu wenig mit den Lösungen. Da kann nichts Neues entstehen. Ich bin überzeugt, dass unsere Demokratie nur durch ein neues Miteinander gerettet werden kann und indem wir mit Bürger*innen auf Augenhöhe zusammenarbeiten. Dazu müssen wir Räume aufmachen und eine neue Beteiligungskultur zulassen.
Ich erzähle in meinem Buch verschiedene Geschichten von gelungenen Demokratieexperimenten: sogenannte „freundliche Revolutionen“ in Vorarlberg, Dortmund, der Schweiz, Irland, Barcelona oder Frankreich, die eine neue Form von Demokratie vorleben und zeigen, dass Beteiligung und Engagement von Bürger*innen etwas bewegen können. Sie alle stellen das Verbindende über das Trennende, den Kompromiss über den Konflikt und sie streben ein neues Verhältnis zwischen Politik und Bürger*innen an. Wir wissen, dass diese Experimente funktionieren. Wir kennen ihre Rahmenbedingungen und Ingredienzien und könnten sie erneut zum Einsatz bringen.
Es fehlen die geeigneten Kompetenzzentren zur Vermittlung der notwendigen Fähigkeiten. Es fehlen aber vor allem der politische Wille und das Wissen, wie Beteiligung heute funktioniert: Partizipation ist längst raus aus der „Schmuddelecke“ und hat nichts mehr mit naivem Weltrettertum zu tun. Bei vielen beispielgebenden Projekten wird nicht mehr herumdilettiert, sondern mit viel fachlichem Know-how gearbeitet.
Die Notwendigkeit zur Weiterentwicklung unserer Demokratie wird durch die Dynamik der Digitalisierung noch verschärft. Die Logiken sozialer Netzwerke tendieren dazu, Einzelmeinungen zu verstärken, indem sie uns nur mit ähnliche Meinungen und Inhalten „füttern“. Wir sind also ständig unter Gleichgesinnten. Wir können aber Demokratie nur entwickeln, wenn wir auf Widersprüche treffen, auch andere Meinungen zulassen und uns damit auseinandersetzen. Statt digitaler Meinungsmonokulturen brauchen wir physische Orte der Begegnung und Beteiligung.
Beteiligung erfordert eine gewisse innere Haltung, eine Grundhaltung des Vertrauens, dass die, mit denen ich arbeite, sich qualifiziert einbringen. Dazu braucht es Menschen mit sozialer Intelligenz, also der Fähigkeit, sich in den anderen und seine Bedürfnisse hineinfühlen zu können. Insofern haben freundliche Revolutionen vielleicht auch eine stärker weibliche Komponente, weil es darum geht, möglichst inklusiv zu arbeiten, alle mitzunehmen und ins Boot zu holen. Und nicht darum zu sagen: Wir machen es nach meinem Plan. Ich bin überzeugt, wenn die Politik mutig genug ist, echte Beteiligung zuzulassen und die geeigneten Rahmenbedingungen zu schaffen, dann kommen auch die Leute. Und wenn wir mit denen anfangen, die schon begeistert sind und umsetzen wollen, dann hätten wir bereits viel geschafft.
Beteiligung gelingt dann, wenn Politik und Bürger*innen aufeinander zugehen. Wir brauchen offene Politiker*innen, die Bürger*innen nicht nur als „Wutbürger*innen“ oder „Bittsteller“ wahrnehmen. Und wir brauchen Bürger*innen, die bereit sind, der Politik Fehler zuzugestehen und gleichzeitig selbst mehr Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen. Ich glaube, eine neue Kultur kann zunächst am ehesten dort entstehen, wo Fehler am wenigsten weh tun: also im Kleinen. Ich würde im lebensnahen Umfeld von Menschen beginnen, sie dort einladen, Dinge mitzugestalten. In diesen Räumen der Beteiligung, wo kein großes Malheur passiert, wenn nicht alles klappt, können Politik und Bürger*innen lernen, wie echte Beteiligung sich anfühlt.
Ich muss darauf achten, dass Entscheidungen nicht manipuliert werden können, z.B. indem einzelne dominieren und sich alle deren dominanter Meinung anschließen. In demokratiepolitisch relevanten Beteiligungsprojekten muss ich sicherstellen, dass auch Menschen aus niedrigeren Einkommensschichten sich am politischen Prozess beteiligen. Wir wissen, dass sie das oft nicht tun. Wenn es aber darum geht, einer Entscheidung Legitimität zu geben, muss gewährleistet sein, dass sie von einer qualifiziert ausgewählten Gruppe getroffen wurde. Hier kann man z.B. mit Bürgerräten arbeiten, deren Teilnehmer*innen per Losverfahren ausgewählt werden.
Beteiligung auf lokaler und regionaler Ebene führt dazu, dass Menschen sich verantwortlich fühlen. Das schafft Verständnis für die Komplexitäten politischer Entscheidungen auch auf nationaler und übernationaler Ebene. Und ja, ich glaube, dass z.B. ein Bürger- oder Zukunftsratsmodell als konsultatives beratendes Organ für die EU sinnvoll wäre. Ein solcher Rat von Bürger*innen könnte der EU-Kommission und dem Parlament unterstützend zur Seite stehen und ihre Politik auf Langfristigkeit bzw. Nachhaltigkeit hin prüfen. Das würde manche Reform erleichtern und kontroverse Themen entschärfen, indem man den Kompromiss in den Vordergrund stellt. Das Beispiel des nationalen Irischen Bürgerrats (Citizen Assembly) hat auf jeden Fall gezeigt, dass es dank der Ideen und Politikempfehlungen von Bürger*innen möglich ist, schwierige Reformen auf nationaler Ebene voran zu bringen.
Weil diese Geschichten des Gelingens keine großen Konflikte und Dramatik beinhalten, die für Schlagzeilen sorgen. In meinen Beispielen steht der Kompromiss im Vordergrund und nicht der Kampf. Die mediale Verwertungslogik interessiert sich aber mehr für Themen, in denen es um Konfrontation geht. Gerade deshalb braucht es neben der medialen auch eine andere Form des Erzählens von Positivem, das Menschen zum Handeln inspiriert. Mein Buch ist ein Versuch in diese Richtung und ich hoffe, es folgen weitere.