Ganz schön was los im Kiga – Vielfalt erleben

Wie der Balanceakt „Vielfalt“ Elementarpädagog*innen gelingt

„Eine konkrete Anleitung mit Checklisten kann es nicht geben“, sagt Barbara Lehner, Lehrende und Forschende vom Studiengang Sozialmanagement in der Elementarpädagogik. Kaum eine Berufsgruppe steht Vielfalt in so mannigfaltiger Weise gegenüber wie Elementarpädagog*innen. Mit Beispielen aus der Praxis regt Lehner zu Reflexion an und zeigt, wie professionelles Handeln und Inklusion in Kindertagesstätten gelingen kann.

Datum: 9.12.2022

Ganz schön was los im Kiga – Vielfalt erleben

Lisa Baumgartner
Herzlich willkommen und danke fürs Reinhören bei neunmalklug. Lisa Baumgartner meldet sich heute von einem Ort, der für viele von uns mit den wunderbarsten und sehr frühen Erinnerungen verbunden ist: dem Kindergarten, also korrekter Kindertagesstätte. Ich denke da an die ersten besten Freundschaften, viel Spielen, Basteln, Singen, Ausflüge und in der Kuschelhöhle sich verstecken. Und an meine Andrea denke ich auch. Das ist meine liebste Elementarpädagogin gewesen. Sie war immer für mich da, die hat meine Bedürfnisse gesehen und darauf reagiert. Aber viele Kinder haben viele Bedürfnisse, die durchaus ja auch ganz unterschiedlich sein können. Elementarpädagog* innen stehen also einer Vielfalt gegenüber. Wie sie dieser begegnen? In diese Thematik führt uns Barbara Lehner vom Bachelorstudiengang Sozialmanagement in der Elementarpädagogik. Barbara Lehner Sie unterrichten Lehrveranstaltungen wie "Diversität, Umgang mit Vielfalt und Fremdsein" oder auch "Lebenswelten von Kindern und ihren Familien". Sie forschen zu diesem Thema und schreiben Bücher. Was steckt denn jetzt hinter der Vielfalt in der Elementarpädagogik?

Barbara Lehner
In elementarpädagogischen Einrichtungen treffen unterschiedliche Menschen aufeinander, mit unterschiedlichem kulturellem Hintergrund, unterschiedlichen Erstsprachen, aber auch mit unterschiedlichen Erwartungen und Erfahrungen in ihren bisherigen Lebenszusammenhängen. Und diese Unterschiede zeigen sich selbstverständlich bei den Kindern und bei den Eltern, aber auch bei den Pädagog*innen. Auch die Pädagog*innen bringen aus ihren bisherigen Erfahrungen, aus ihren Lebenswelten Unterschiedliches mit.

Lisa Baumgartner
In ihrem aktuellsten Buch bezeichnen Sie Vielfalt in der Elementarpädagogik als Balanceakt für die Pädagog*innen. Wieso?

Barbara Lehner
Ein Balanceakt ist es deshalb immer wieder, weil jedes Kind seine individuellen Erfahrungen in den Kindergarten mitbringt. Es ist immer auch für die pädagogischen Fachkräfte notwendig zu fragen, welches Angebot braucht denn das Kind, um wirklich seine Chancen gut nutzen zu können und letztendlich auch die Bildungs- und Entwicklungsprozesse des Kindes gut unterstützen zu können. Insofern ist pädagogisches Handeln immer wieder ein Abwägen und Austarieren, welche Angebote für alle Kinder gerecht sind und bei welchen Angeboten welches Kind etwas Besonderes auch braucht, um wirklich am Gruppengeschehen auch teilhaben zu können.

Lisa Baumgartner
Was benötigen denn pädagogische Fachkräfte für den Balanceakt, damit dieser gelingt.

Barbara Lehner
Um letztendlich auf die individuellen Anforderungen der Kinder reagieren zu dürfen, bedarf es einerseits wirklich das theoretische Wissen. Aber es braucht auch für die Pädagog*innen die laufende Reflexion des eigenen Handelns, vor allem auch dann, wenn eigene Gefühle involviert sind. Und die sind im pädagogischen Handeln, spielen laufend eine Rolle. Und man ist ja immer wieder auch von den eigenen emotionalen Befindlichkeiten gelenkt. Und eben weil jede pädagogische Situation unterschiedlich ist und wir immer ganz unterschiedlich in der Situation auch emotional verstrickt sind, wäre es eigentlich fast notwendig, eine Sicherheit auch im Nachdenken über das eigene Handeln zu entwickeln, damit eben diese Einzelsituation gut eingepasst werden kann und das aus der Erfahrung der vielen Einzelsituationen dann quasi sich das Handlungsrepertoire und das Verstehen, wie reagiere ich, wie reagiert das Kind, zu sammeln und immer mehr zu erweitern, sodass es immer mehr ein bewussteres Handeln auch wird im Sinne des Eigengehens auf die Kinder.

Lisa Baumgartner
Ich würde gerne den Begriff Vielfalt ein bisschen greifbarer machen. Nennen wir doch Beispiele. Wodurch entsteht denn diese Vielfalt?

Barbara Lehner
Wenn man bei Vielfalt an unterschiedliche Kulturen denken, an unterschiedliche Religionen denken, aber auch, dass Kinder unterschiedliche Sprachen im Kindergarten mitbringen oder auch unterschiedliche Beeinträchtigungen mitbringen, wäre es da notwendig, immer im Blick zu haben, welche Möglichkeiten habe ich als Pädagog*in, um auf die Bedürfnisse und Bedarfe der Kinder unterschiedlich einzugehen. Eben, in welcher Art und Weise kann man auf kulturelle Vielfalt, wie kann man die berücksichtigen? Was brauchen auch Kinder zum Beispiel mit Beeinträchtigungen? Was muss ich auch an den Rahmenbedingungen verändern? Welches theoretische Wissen brauche ich, um auf die Kinder eingehen zu können?

Lisa Baumgartner
Greifen wir gleich einmal die kulturelle Vielfalt heraus. Welche Situationen sind eben durch unterschiedliche Kulturen zwischen den Kindern beeinflusst?

Barbara Lehner
Da fällt mir zum Beispiel eine Pädagogin ein, die Ramon betreut hat, also ein dreijähriges Kind. Im Kindergarten in der Sandkiste findet er eine Haarspange. Er freut sich total über die gefundene Haarspange bis seine Freundin Lisa kommt, die sagt die Haarspange ist ihre und die sofort haben möcht. Und aus dieser Situation entsteht zwischen den Kindern ein Konflikt, wo Ramon nicht versteht, dass er die Haarspange, die er gerade gefunden hat, wieder hergeben muss. Auf der anderen Seite die Lisa, die die Haarspange von zu Hause mitgebracht hat. Für sie ist völlig klar, das ist meine Haarspange. Und diesen Konflikt, der lässt sich so eigentlich nicht wirklich gut lösen ohne so quasi ein Kind letztendlich zurückweisen zu müssen. Wenn man aber den kulturellen Hintergrund und die Sozialisationserfahrungen der Kinder mit einbezieht, schaut die Sache ein bisschen anders aus. Weil dann denkt man möglicherweise daran, dass der Ramon aus einer Kultur kommt, die viel mehr an der Gemeinschaft, an der Verbundenheit im großen Ganzen orientiert ist, wo der individuelle Besitz nicht so bedeutsam ist und wo das Teilen auch in der Familie, in der Gemeinschaft eine ganz andere Bedeutung zukommt. Und er betont immer wieder "Funden, Funden", das heißt, er hat die Spange gefunden und hat von sich aus das legitime Bedürfnis: Jetzt mag er mit der Spange spielen, mag er sich mit der Spange beschäftigen, ist möglicherweise auch stolz auf die Spange. Die Lisa ist in mitteleuropäischer Kultur aufgewachsen, wo wir viel mehr die Erwartung oder das Sozialisationsziel haben, d as Individuum soll in seinen Bedürfnissen individuell gefördert werden. Der individuelle Besitz hat doch eine ganz andere Bedeutung. Und die Lisa versteht gar nicht, warum sie ihre Spange, die sie wahrscheinlich von ihrer Mama mitbekommen hat, warum sie die teilen soll. Und da wäre es eigentlich fein, wenn die Pädagogin im Umgang mit den Kindern die unterschiedlichen Arten und Weisen des Verstehens besprechen kann, herausgreifen kann. Und weil es ja eigentlich für beide Kinder bedeutsam ist, einerseits das andere kennen zu lernen und andererseits geht es ja im Kindergarten auch darum, sich in der Gemeinschaft einzubringen, hier zu teilen. Und gleichzeitig diese individuellen Ansprüche und diese Gemeinschaftsansprüche, wenn das im Kindergarten gemeinsam Platz hat, wäre das eigentlich eine gute Lösung, die den Konflikt nicht aus der Welt schafft, aber Verständnis für den jeweils anderen schafft.

Lisa Baumgartner
Ich kann mir vorstellen, dass es ja auch zwischen Pädagog*innen und Eltern immer wieder Situationen gibt, die kulturell bedingt dann für Unverständnis sorgen.

Barbara Lehner
Ja, bei Eltern ist es ähnlich wie bei den Kindern, dass oft die Erwartungen und die bisherigen Erfahrungen der Eltern eigentlich wenig berücksichtigt werden. Da fällt mir zum Beispiel, und bleiben wir vielleicht beim Ramon, auch die Eingewöhnungsgeschichte vom Ramon ein. Die Mutter, der es so schwer gefallen ist, den Ramon auch zu unterstützen, zu trösten in der Eingewöhnung, die der Pädagogin so ganz die Verantwortung gegeben hat. Und auch da ist ganz schnell dann von der Pädagogin der Vorwurf: Die Mutter tut nichts, das wäre doch Aufgabe der Mutter, die Mutter muss doch das Kind unterstützen, dass das Kind von sich aus befähigt wird, sich zu trösten und so quasi diesen Trennungsschmerz auszuhalten. Und genau das würde ich aber annehmen, bringt die Mutter aus ihrer Kultur andere Erfahrungen mit. Auch die Mutter erlebt Gesellschaft so quasi in der gemeinsamen Verantwortung und sie erlebt sich nicht als Einzige, die dafür verantwortlich ist, dass das Kind getröstet wird, und schon gar nicht, dass sich so ein kleines Kind selber trösten können muss. Sondern sie erlebt genügend Erwachsene, die in der Verantwortung sind rund um das Kind. Und insofern wäre der Kindergarten fast so ein bisserl erweiterte Familie im Erleben der Mutter. Und da sind die erwachsenen Personen zuständig, das Kind zu trösten, wo sie ja auch das Kind jetzt mit einem guten Gefühl zurücklassen will, denn es gibt andere verantwortliche Erwachsene. Und pädagogische Fachkräfte müssten das aufgreifen und müssten da diesen Blick bekommen auf dieses andere Erleben der Mutter. Und über das Verstehen des Anderen kann dann gemeinsam nach Lösungen gesucht werden. Wie können wir denn die Eingewöhnung gestalten? Wo nimmt die Pädagogin auch das Kind entgegen, wo es vielleicht von einer Mutter aus unserem Kulturkreis eher selbstverständlich ist, dass die Mutter das Kind gut vorbereitet, dass die Mutter das Kind tröstet, dass die Mutter so quasi die Ressourcen hat, auf Emotionales des Kindes einzugehen. Und so quasi das Kind der Pädagogin nunmehr übergibt.

Lisa Baumgartner
Das heißt, Ihr Tipp an Pädagog*innen wäre der Reflexion und dann das Gespräch suchen, nehme ich an.

Barbara Lehner
Genau. Tipps sind in der Pädagogik immer sehr schwierig. Aber grundsätzlich ja, glaube ich, geht es tatsächlich darum, mit dem theoretischen Wissen, das ich habe, zu schauen, wie könnte ich denn verstehen, was passiert da zwischen Mutter und mir. Und wo sind meine Erwartungen und wo sind die Erwartungen der Mutter? Und passt das zusammen? Und das wäre eigentlich so quasi ein Reflektieren letztendlich der Situation.

Lisa Baumgartner
In der Kindertagesstätte Inklusion fördern von Kindern mit Behinderung und Beeinträchtigung haben sie auch genannt. Das Recht auf Inklusion ist, denke ich, in der UNO Behindertenrechtskonvention festgeschrieben. Welche Sichtweisen helfen bei dieser Situation?

Barbara Lehner
Die UNO Menschenrechtskonvention sichert ja Kindern mit Behinderung oder Beeinträchtigung das Recht auf Inklusion. Und das Recht auf Inklusion bedeutet eigentlich, dass die Rahmenbedingungen im Kindergarten, aber letztendlich auch auf gesellschaftlicher Ebene, zur Verfügung gestellt werden, dass auch Menschen mit Beeinträchtigung teilhaben können. Und für den Kindergarten bedeutet das, dass der Kindergarten so quasi von vornherein schauen sollte, welche Rahmenbedingungen haben wir, damit eben auch Kinder mit Beeinträchtigungen oder Behinderungen teilhaben können. Und das kann sein, dass man möglicherweise überlegen muss, in welcher Weise könnte für ein Kind, das zum Beispiel einen Rollstuhl benötigt, die baulichen Barrieren abgebaut werden, dass der Besuch möglich ist. Kann aber auch sein: Wie kann ich ein blindes Kind an Spielen teilhaben lassen, am Gruppengeschehen teilhaben lassen? Wie kann ich mit einem beeinträchtigten Kind in Kommunikation treten, wenn möglicherweise das Sprachverständnis, also das lautsprachliche Sprachverständnis schwierig ist?

Lisa Baumgartner
Haben die Kinder selber auch eine gewisse Rolle dabei? Also, ich gehe jetzt mal davon aus, dass es eben bei der Gruppe dann auch eine Dynamik gibt. Wie können denn Pädagog*innen Kinder beeinflussen, damit die Gruppendynamik in Inklusionsfall passt?

Barbara Lehner
Ich glaube, es ist nicht eins zu eins, ich tu irgendwas und dann ist es selbstverständlich, dass sich Spielverhalten bei den Kindern entwickelt, dass alle Kinder beteiligt werden am Spiel. Mir fällt da ein sehr schönes Beispiel ein, das eine Pädagogin einmal beobachtet hat Drei Kinder sitzen am Spielteppich und spielen und zwei Kinder wollen ein Spiel spielen und ein drittes Kind nimmt ihnen den Würfel mit der Schachtel weg und will so quasi rasseln mit dieser Schachtel. Und die Kinder wollen es ihr zuerst wegnehmen und geben aber dann Bohnen in die Schachtel, damit das Kind eine Rassel hat. Und, da müssten wir jetzt gar nicht drüber nachdenken, wenn wir nicht wissen würden, dass dieses Kind, das die Rassel sich machen will, eine Behinderung hat. Und, wenn man sich dann fragt, wie kann denn so ein feststehendes und verständnisvolles Spielverhalten bei den Kindern entstehen, glaub ich, kommt es ganz stark auch auf die Haltung letztendlich der Pädagogin an und wie die Pädagogin auch die Bedürfnisse der Kinder wahrnimmt. Und gerade diese Pädagogin, die dieses Fallbeispiel einmal in eine Lehrveranstaltung mitgebracht hat, die zeichnet sich aus, dass sie ganz stark auf Bedürfnisse der Kinder eingeht, dass sie zum Beispiel eine andere Situation, die sie beschrieben hat, wo sie in der Früh kommt und noch in der Straßenkleidung, am Weg zum Personalraum sieht sie schon ein Kind, das scheinbar heute länger braucht zum Verabschieden vom Vater. Sie spricht dieses Kind nur kurz an und sagt: "Ich ziehe mich nur aus und bin dann gleich da". Dann braucht das Kind sie nicht gleich. Sie geht in die Gruppe, ein anderes Kind meldet Bedarf an, das mit ihr spielen möchte. Da sieht sie aber, dass das Kind aus der Garderobe kommt, und sie versucht zuerst das Kind aus der Garderobe mit ihrem Trennungsschmerz aufzufangen. Das andere Kind, so quasi, versucht sie einzubinden. Das Kind mag jetzt nicht mitspielen, aber scheinbar hat das Kind die Sicherheit in der Beziehung zur Pädagogin, wenn ich später was brauch, ich weiß, sie kommt sicher zu mir. Und jetzt ist es aber vorrangiger, dass dem Kind mit dem Abschiedsschmerz, dass das ein bisschen getröstet wird. Gleichzeitig sieht man da so dieses Wissen und dieses Erklärtbekommen. Jetzt braucht mich ein anderes Kind mehr, aber trotzdem sehe ich deinen Bedarf, dass du mich auch brauchst. Aber dieses Benennen macht oft schon für die Kinder den Unterschied, das Benennen und gleichzeitig das Wissen aus der Beziehungserfahrung mit der Pädagogin, meine Bedürfnisse werden gesehen, aber manchmal muss ich auch ein bisschen zurückstecken, weil ein anderes Kind die Pädagogin noch dringender braucht. Das erscheint jetzt so viel zu sein. Und manchmal höre ich auch von Pädagog*innen: Wie sollen wir das alles schaffen? Aber, genau das ist ja wahrscheinlich der Punkt, der in der Überforderung so schwierig ist und gleichzeitig aber: Wenn die Kinder die Sicherheit haben und dieses Wissen haben, meine Bedürfnisse werden wahrgenommen, können sie die dann an anderer Stelle auch selber und alleine besser aushalten lernen.

Lisa Baumgartner
So eine Sicherheit, so ein Beziehungsaufbau, das funktioniert doch nicht von heute auf morgen, oder?

Barbara Lehner
Nein, das sind wirklich lange Prozesse. Und genau das ist auch tatsächlich die Haltung, die man immer wieder reflektieren muss, weil man ja selber auch immer wieder in Überforderung kommt. Und wissen wir alle, wenn es uns selber nicht so gut geht, können wir nicht so viel auf die Bedürfnisse der anderen schauen. Und gleichzeitig geht es aber immer wieder darum, trotzdem zu schauen, wie kann ich möglichst diesen Blick auf die Kinder nicht verlieren. Aber das sind ganz, ganz schwierige und langwierige Prozesse und es bedarf auch tatsächlich der Haltung, sich letztendlich auf die Beziehung auch zu den Kindern einzulassen.

Lisa Baumgartner
Ist das nicht eine Grundvoraussetzung für den Beruf?

Barbara Lehner
Na ja, oft steht im Kindergarten eigentlich der Bildungsprozess im Vordergrund und gleichzeitig wissen wir aber, dass Bildung ohne Gefühle eigentlich nur so schwer möglich ist. Aber leider wissen wir auch aus Studien, dass es immer wieder auch passiert, dass Pädagog*innen so fokussieren das Bildungsangebot und dass oft Kommunikation nur über die Bildungsangebote stattfindet. Und, dass gerade die Beziehung und das Gefühl "Ich werde wahrgenommen, ich werde gesehen" - das ist was, was in Gruppengeschehen immer wieder auch zu kurz kommt.

Lisa Baumgartner
Was verstehen Sie unter Bildungsangeboten im Kindergarten?

Barbara Lehner
Ich würde Bildungsangebote als alle Angebote verstehen, die Kinder letztendlich dazu bringen, sich mit Neuem auseinanderzusetzen.

Lisa Baumgartner
Viele Sprachen, das ist sicherlich auch ein ganz wesentlicher und großer Punkt in den Kindertagesstätten, Mehrsprachigkeit in der Familie. Wie sehr verunsichert es, wenn eigentlich unklar ist, in welcher Weise Kinder die Sprache verstehen?

Barbara Lehner
Es verunsichert Pädagog*innen sehr oft sehr viel, was meine Erfahrung ist. Generell, wenn wir nicht wissen, ob uns der andere versteht, werden wir unsicher, wissen nicht, welche Sprache wir sprechen sollen, versuchen es vielleicht mit Händen und Füßen, formulieren möglicherweise einfachere Sätze, aber es verunsichert uns. Und dieses Gefühl hat man natürlich auch im professionellen Umgang, wenn man nicht weiß, kommen meine Worte so wie ich sie sage, beim Kind an. Und auch da ist es oft gar nicht so wichtig, ob die Worte richtig verstanden werden im sprachlichen Sinn, sondern da geht es ganz oft um das Emotionale, was eigentlich mitschwingt. Und auch da fällt mir ein Fallbeispiel ein von einer Pädagogin, die ein Kind mit anderer Erstsprache hatte. Das Kind war länger krank und nicht im Kindergarten und der Vater kommt dann in der Früh und bringt das Kind. Und dem Kind fällt die Trennung vom Vater scheinbar schwer und die Pädagogin überlegt noch extra: Soll ich das Kind ansprechen? Soll ich was sagen? Entscheidet sich dann letztendlich doch, den Prozess beim Kind zu beschreiben. Ja, jetzt haben wir es schon lang nicht gesehen und heute fällt da der Abschied vom Papa schwer. Und es ist ja schon so lange her, dass du das letzte Mal bei uns warst. Und indem sie diese Worte spricht, der Vater übersetzt dann auch, fasst sie ja sehr gut das emotionale Erleben des Kindes auf. Und eigentlich geht es bei Sprache ja oft ganz viel auch ums Erfassen dieser emotionalen Gehalte. Und wenn die dem Kind vermittelt werden, ist es wichtig, dass das Kind spürt Aha, meine Pädagogin versteht, wie es mir geht. Und da geht es vielmehr um emotionale Prozesse als wirklich um das Verstehen von Sprache.

Lisa Baumgartner
Mehrsprachigkeit sollte die gefördert werden, haben da die Pädagoginnen einen Auftrag?

Barbara Lehner
Ja, Mehrsprachigkeit sollte auf jeden Fall gefördert werden. Und es sollten die Erstsprache der Kinder auf jeden Fall auch Raum im Kindergarten haben. Denn mit der Sprache ist ja auch ein Stück Identität verbunden. Und wenn ich jetzt im Kindergarten erlebe, ein Teil von mir, nehme ich meine Sprache, darf nicht gesprochen werden oder wird auch nur nicht geschätzt, dann wird es schwierig, weil ich erlebe als Kind, dass dieser Teil von mir ein nicht guter Teil ist. Und insofern ist es wichtig, dass das Kind auch in seiner Sprache wahrgenommen wird, die Sprache auch sprechen darf und im Idealfall auch die Pädagogin zumindestens einzelne Worte in der Sprache des Kindes sprechen kann, um den Kindern auch zu vermitteln: Es ist ein wichtiger Teil von dir und ich schätze es auch.

Lisa Baumgartner
In Ihrem Buch sprechen Sie auch davon, dass elementarpädagogische Arbeit Arbeit im Ungewissen ist. Was meinen Sie damit?

Barbara Lehner
Im Kindergarten, Kinderkrippe ist insofern Arbeit immer eine Arbeit im Ungewissen, weil jede Situation individuell ist. Keine Situation wiederholt sich, und insofern fordert uns jede Situation täglich wieder. Wir als Pädagog*innen stehen mit unseren eigenen Emotionen, eben Unsicherheit haben wir schon gehabt, aber auch möglicherweise Überforderung, aber auch Hilflosigkeit - in manchen Situationen stehen wir vor den Kindern und müssen aber sofort reagieren, weil bei dialogischem Handeln immer schnelles Handeln erfordert.

Lisa Baumgartner
Und wie sollen dann die Studierenden, die Elementarpädagog*innen damit umgehen?

Barbara Lehner
Um mit diesen Handeln im Ungewissen umgehen zu können, bedarf es eigentlich aus meiner Sicht dreier Faktoren. Das eine ist tatsächlich: Wir brauchen eine gute Basis an theoretischem Wissen, auf das wir uns beziehen können. Denken Sie nur, zuerst habe ich von den unterschiedlichen gesellschaftlichen Modellen gesprochen, die Pädagog*innen kennen sollten, um verstehend darüber nachdenken zu können. Das heißt, ich brauche eine gute Basis an Wissen. Und zweitens muss ich dann in der Lage sein, über mein eigenes Handeln nachzudenken, um eben zu verstehen, in der Verknüpfung mit dem theoretischen Wissen, worum geht es denn in dieser Situation? Um letztendlich dann in einem dritten Schritt darüber nachdenken zu können, warum handle ich in dieser Situation so? Und da sind wir sehr schnell, auch beim individuellen Erleben und beim eigenen emotionalen Erleben. Weil, wenn mich ein Gefühl an meine eigenen Grenzen bringt, wenn zum Beispiel selber mir Trennung sehr schwerfällt, ich eigentlich mit Abschieden immer Schwierigkeiten habe, wird es mir natürlich umso schwerer fallen, ein Kind zum Beispiel in der Abschieds- und Trennungssituation von der Mama unterstützen zu können. Insofern muss ich das wissen, wie schwierig es für mich ist, damit ich das Kind gut unterstützen kann. Und möglichst auch quasi das im Team gut einbinden, weil möglicherweise kann man sich dann auch im Team gut absprechen, wer könnte denn manche Situationen zum Beispiel besser hinkriegen, wenn eine Kollegin gerade in spezifischen Situationen eben selber ein Stück hängt. Oder, wie kann man sich hier gegenseitig unterstützen, auch schwierige Gefühle besser aushalten zu können?

Lisa Baumgartner
Vielfalt in der Elementarpädagogik scheint mir unumgänglich. Das ist ein Fakt. Ihre Conclusio dazu.

Barbara Lehner
Fragend und neugierig auf Fremdes zugehen, sich mit Fremden, aber auch mit Eigenem auseinanderzusetzen und mit fremd und eigenen, würde ich jetzt sehr umfassend sehen: Mit Gefühlen, die ich nicht kenne, mit Kulturen, die ich nicht kenne, mit Sprachen, die ich nicht kenne, aber auch mit Lebensformen, die möglicherweise nicht meine sind und gleichzeitig aber auch die eigenen immer wieder zu reflektieren und darüber nachzudenken.